Selbstidentifikation

Verfasst von Alex und Niels

Ein besonderes Thema in der ethischen Problematik stellt die Selbstidentifikation dar: Die Rolle, die wir auf dieser Welt spielen und worin sich unsere Gefühle und Gedanken am besten widerspiegeln, wobei das Empfinden beim Erwachsenwerden immer weiter steigt. Menschen, die von elektronischen Ersatzteilen abhängig sind, sind hier natürlich keine Ausnahme. Im kommenden Abschnitt konzentrieren wir uns auf die Gehörlosen und das Cochlea-Implantat, da in diesem Gebiet die Identifikation sehr stark ausgeprägt vorliegt.

Gehörlosenkultur

Der Begriff einer Kultur wird meist mit Aktionen von Menschen, nicht nur in der Vergangenheit, sondern auch in der Gegenwart verstanden. Diese Menschen haben etwas geschaffen, womit sich andere identifizieren können. Sie haben sich bemüht, ihre Unterschiede zur restlichen Bevölkerung hervorzuheben. Kultur ist etwas, worin wir uns wiederfinden und genießen können und in der in gewissen Aspekten unseres Lebens Fähigkeiten und Ansichten übereinstimmen. Eine bewusste Distanz wird geschaffen, um sich von anderen zu differenzieren und sich selbst zu repräsentieren.
Die Medizin und das Recht beschreiben die Gehörlosigkeit als eine anerkannte Behinderung, die ein besonderes Maß an Aufmerksamkeit verdient hat und braucht. Doch gerade diese Bezeichnung einer Behinderung und der Aspekt, besonders behandelt zu werden, widersprechen der Auffassung vieler Betroffenen. Gehörlos zu sein bedeutet für sie zwar eine Einschränkung in der Kommunikation mit Nicht-Betroffenen, aber nicht insofern eingeschränkt zu sein, dass sie eine verminderte Lebensqualität besitzen.
Genau wie die deutsche Sprache eine Kultur besitzt, verfügt die Gebärdensprache, die Sprache der Gehörlosen, über eine Gehörlosenkultur. Sämtliche anderen Sprachen machen es größtenteils nicht möglich diesen Menschen eine Teilhabe an diesen zu ermöglichen.

Zitat von Beat Kleeb (gehörlos): "Denn nach meiner Erfahrung laufen rund 90 % der kulturellen Aktivitäten über das Gehör: Theater, Vorträge, Vereinsveranstaltungen, politische Arbeit, Radiosendungen, Film und Fernsehen sind für Gehörlose heute immer noch in den meisten Fällen unzugänglich." [1]

Daher ist es nur zu gut zu verstehen, dass Aktivitäten eher in der Gruppe von ebenfalls Gehörlosen unternommen werden. Somit scheint die Sprache, oder viel präziser die Kommunikation auf derselben Ebene, ein kulturelles Gut zu schaffen, mit dem sich eine Identifikation einer selbst einher zieht. Ein weiterer wichtiger Aspekt sind die Erfahrungen, die durch die fehlenden akustischen Reize aufgenommen werden. Natürlich existieren Menschen, die sich mit dieser Kultur verbunden fühlen und sogar die Sprache beherrschen. Diese haben aber niemals die Erfahrung gemacht, ohne ein Gehör zu leben.
Somit stellt eine Kultur, insbesondere die Gehörlosenkultur, eine ganz spezielle Verbundenheit mit denselben Problemen, Erfahrungen und Sichtweisen im Leben her. Hier werden sie nicht abgewiesen, weil sie jeder versteht. Hier können sie sich ausleben und das Gefühl des "Allein-Seins" scheint nicht zu existieren.
Aus den unterschiedlichen Situationen in unterschiedlichen Staaten, erwachsen unterschiedliche ethische Fragen. Weswegen wir uns im Folgenden hauptsächlich mit für Deutschland relevanten Problematiken befassen.

Kernfrage an die Ethik: Haben gehörlose Kinder ein Recht auf ein Cochlea-Implantat?

Warum Kinder nicht selber entscheiden lassen?

Kinder sind vor einem gewissen Alter nicht in der Lage selber derart schwerwiegende Entscheidungen zu treffen. Sie können nicht genau abschätzen wie groß die Risiken sind und was die Folgen sein werden.
Eine gute Lösung für dieses Problem wäre es zu warten, bis die Kinder ein Alter erreicht haben, indem sie selber über schwerwiegende Dinge entscheiden können, allerdings ist dies nicht immer möglich.
Das Cochlea-Implantat sollte, nach Möglichkeit, vor dem 2. Lebensjahr [2] implantiert werden. Denn grundsätzlich gilt: Je früher die Implantation, desto größer sind die Chancen auf eine normale Hörfähigkeit. Nach den ersten 36 Monaten entstehen nämlich irreversible Schäden des Nervensystems, was nicht gleich bedeutet, dass ein spätere Implantation unmöglich ist. Dennoch wird die Chance auf gute Ergebnisse schlechter.

Soll mein Kind ein Implantat bekommen oder nicht?

Die Eltern müssen also die Entscheidung übernehmen, ob das Kind ein Cochlea-Implantat bekommen soll oder nicht.
Die Frage scheint schwierig zu beantworten zu sein, denn häufig sind Ängste der Eltern, über die Unverträglichkeit der, im Implantat verwendeten Materialien oder das generelle Risiko einer mehrstündigen OP Anlass für zögerndes Verhalten.
Einige Autoren sind der Meinung Eltern dürfen technische Hilfe in Form eines Cochlea-Implantats nicht verweigern, da Taubheit rechtlich und medizinisch als Behinderung anerkannt ist. Zu einem späteren Zeitpunkt ist es den Kindern vielleicht unmöglich, sich anders zu entscheiden.
Das könnte bedeuten, dass sie nicht zum Wohle des Kindes entscheiden würden. Was in einigen Fällen und speziell auf gehörlose Kinder bezogen, das Wohl des Kindes ist, ist ein nicht ganz geklärter Sachverhalt, der aus unterschiedlichen Sichtweisen unterschiedlich beschrieben werden kann.
Eine Entscheidung der Eltern gegen das Wohl des Kindes würde rein rechtlich eine Entziehung des Sorgerechtes bedeuten. Dieser Auffassung war auch der HNO-Arzt eines gehörlosen Kindes. Wie im Elternmagazin des Bundeselternverbandes Gehörlose Kinder e.v. [3](Im folgenden BGK) berichtet wurde, wurde der Mutter des Kindes mit der Entziehung des Sorgerechtes gedroht, falls sie die Implantation eines Cochlea-Implantats ablehne. Dies ist bei den Mitgliedern des Vereins auf Ablehnung gestoßen. [3]
Eltern wollen nicht, dass ihnen der Gesetzgeber vorgibt, was das Beste für ihr Kind sei, denn auch dieser kann sich irren.
Zusätzlich sehen die Eltern oft auch die Problematik, dass das Kind zwischen zwei Welten aufwächst, der Welt der Hörenden und der Welt der Gehörlosen. Als Gegenargument könnte man anführen, dass viele Kinder zweisprachig aufwachsen und keinerlei Nachteil davontragen. Gehörlose Kinder haben es hingegen schwerer beim Erlernen der Sprache.

Sprache, das wichtigste Kommunikationsmittel

Dr. Gisela Szagun und ihr Team haben eine Langzeitstudie über die „Sprachentwicklung bei Kindern mit Cochlea Implantaten“ [4] durchgeführt. Dabei stellten sie fest, dass Kinder mit Implantat häufiger Vokalisieren, das heißt Äußerungen hervorbringen, die wir nicht als Wörter erkennen [4] S10. Zudem weiche ihre Aussprache stärker ab und die gesprochenen Satzfragmente seien häufiger Nachahmungen. Nach der Studie kommt das Team zu dem Schluss, dass die Kinder mit Cochleaimplantat im Schnitt langsamer, aber untereinander sehr viel individueller den Spracherwerb durchliefen. Des Weiteren hat „etwas mehr als die Hälfte der Kinder[..]eine Sprachentwicklung [durchlaufen] die der natürlichen nicht ähnelte“[4] S13 Abs. 1.
Während der Rehabilitationszeit des Kindes, ca. 4-6 Wochen nach der OP wird mit dem Anpassen des Sprachprozessors und einem speziellen Sprachtraining begonnen. Diese Verzögerung und das Weitere erschwerte lernen der Sprache führen dazu, dass alles darauf ausgerichtet wird, dem Kind die verbale Sprache beizubringen. In speziellen pädagogischen Einrichtungen wird das Kind nun über mehrere Jahre betreut und gefördert.[5] Dies ist ein Großteil der Zeit, in der es Kindern leichter fällt Sprachen zu erlernen. Das fehlende Üben der Gebärdensprache führt dazu, dass das Kind beide Sprachen erst spät erlernt, sollte die Zeichensprache überhaupt jemals gelehrt werden.
Diejenigen, die die Gehörlosigkeit als eigene Kultur verstehen, definieren sich unter anderem stark über das Merkmal der eigenen Sprache innerhalb der Gruppierung. Für sie ist dieses Kind nicht wirklich zur Gruppe zugehörig, sollte es die Gebärdensprache nicht beherrschen. Dies könnte bei Eltern, die auch gehörlos sind dazu führen das Implantat abzulehnen. Schließlich ist es für sie keine Behinderung, denn es ist ihre eigene Kultur, die alle Eltern ihren Kindern mitgeben möchten.
Außerdem muss in Betracht gezogen werden, dass es Kindern, die nicht im Kindesalter die Gebärdensprache erlernen später, im Erwachsenenalter deutlich schwerer fällt. Wird die Gebärdensprache dagegen frühzeitig gefördert, so bietet sich dem Kind später immer noch die Möglichkeit, auf das Implantat zu verzichten und gehörlos zu leben.

Zitat einer Aussage von gehörlosen Interviewpartnern:„'Der Hörverlust ist nicht die Behinderung'(...),Ich bin nicht behindert, ich wäre behindert, wenn ich nicht Kommunizieren könnte“[3] S17 Abs.3.Diese Aussage verdeutlicht die Ansicht eines Gehörlosen, der mit seiner Meinung vermutlich nicht allein ist.

Aus der Sicht eines gehörlosen Jugendlichen

Es lässt sich feststellen, dass die Frage, ob ein gehörloses Kind ein Recht auf ein Cochlea-Implantat hat, sich nicht so einfach beantworten lässt. Es ist eine polarisierende Frage: Die Technik ermöglicht kein normales Hören, ein Sprachverständnis ist aber möglich und auch Hintergrundgeräusche werden übertragen. Wie in Blogs von Betroffenen ersichtlich wird [6], haben die Geräte im Alltag auch deutliche Nachteile. Wenn nun während der Entwicklung der Kinder das erlernen der Gebärdensprache hinten angestellt wird, ist das Kind zwingend auf Mediziner und Ingenieure angewiesen, um Kommunizieren zu können. Das Aufwachsen ist ebenfalls eingeschränkt, wenn das Kind ein Cochlea-Implantat hat.
Bei alltäglichen Dingen muss man darauf achten, dass am Kopf des Kindes eine „Schwachstelle“ vorhanden ist. Das Implantat muss mit besonderer Vorsicht behandelt werden. Der junge Blogger schreibt zu diesem Thema über seine Vorliebe zum Thai boxen, die er aufgeben musste [6] Abs.4. Da dies aber über die Zeit ein „wichtiger Teil seiner Person geworden ist“[6]Abs4 Z.2f, kommt dies für ihn nicht in Frage und er entscheidet sich gegen ein Implantat.

Fazit

Wenn man davon ausgeht, dass es medizinisch gesehen das Beste ist, früh zu implantieren, um möglichst gute Ergebnisse zu erzielen und dem Kind das Sprechen der verbalen-Sprache beizubringen, dann ist die Frage mit Ja zu beantworten. Kinder haben ein Recht auf ein Cochlea-Implantat. Auch das deutsche Recht sagt, die Gehörlosigkeit ist eine anerkannte Behinderung, was die Entscheidung der Mediziner untermauern würde.
Doch dies ist Beides nur der Fall, wenn man wirklich bei Gehörlosigkeit von einer Behinderung sprechen kann. Es gibt Betroffene, die sehen die Gehörlosigkeit selbst als Behinderung an, jedoch bleibt nach der Recherche der Eindruck, dass die meisten Gehörlosen sich der Gehörlosenkultur verbunden fühlen und sich mit den Hürden, die die Hörende Welt für sie bietet zurechtfinden. Die eigene Kultur akzeptiert die Gehörlosen, so wie sie sind, sie bietet ihnen Halt und Tipps für den Alltag.
So wäre es für diejenigen, die die Gemeinschaft der Gehörlosen als Kultur verstehen, Diskriminierung, ein Gesetz zu erlassen, das festlegt, dass jedes Gehörlose Kind ein Implantat bekommen soll. Davon abgesehen würde das Kind durch die Operation vollständig gehörlos, sobald man den Sprachprozessor abschaltet. Selbst wenn vor dem Eingriff noch ein Resthörvermögen vorhanden war.
Die Diskussion um diese Frage wird vermutlich noch eine Weile weitergeführt werden müssen, da man sich schon über die Grundlage, ob die Gehörlosigkeit eine Behinderung darstellt nicht ganz einig ist. Möglicherweise entwickelt sich die Technik so weit, dass ein vollständiges normales Hören ermöglicht werden kann. Vielleicht würde dies die Stärken der beiden Lager verschieben. Warum das Beispiel Cochlea-Implantat gewählt wurde. Gerade die Frage, wie sehen sich die Betroffenen und wo fühlen sie sich zugehörig ist keine leicht zu Beantwortende. Das Beispiel des Cochlea-Implantates wurde gewählt, da hier zwei unterschiedliche Kulturen existieren.
Unabhängig davon ob man sie als Volks ähnliche Gemeinschaft sieht, oder als eine sich selbst helfende Gruppe, die das selbe Merkmal verbindet, so ist es doch das „elektronische Ersatzteil“, was den Wechsel in die Kultur der hörenden ermöglicht.
Somit war dieses Ersatzteil prädestiniert dafür, stellvertretend für alle „elektronischen Ersatzteile“, auf die Frage der Selbstidentifikation hin, untersucht zu werden. Bei anderen Ersatzteilen ist der Unterschied, ob man das „elektronische Ersatzteil“ nutzt oder nicht, weniger ausgeprägt. Die Selbstidentifikation ist weniger stark von ihnen abhängig.

Literatur